Leseprobe aus der Kurzgeschichtensammlung " Schuld" von Brigitte Tholen
erhältlich bei Amazon 

Spiegelwelten

Aidan starb wenige Tage vor Samhain, der Nacht, in der die Schleier zur Anderswelt sich heben und die Geister der Ahnen erwachen. Livia hat alles vorbereitet. Ein Spiegellabyrinth im Garten errichtet für das Ritual. Ein Ritual, das sie beide wieder zueinander führt. Nur in dieser Nacht kann es sich ereignen.

Livia fühlt keine Angst. Momente, zart wie Spinnenfäden, tauchen auf, Momente, in denen die Angst gestorben war, wie Aidan, der ihre Seele mitgenommen hat in die Geisterwelt. Sie sah ihn, wie er die letzten Atemzüge machte, die Augen geschlossen, die Wimpern rabenschwarz auf herbstlaubbrauner Haut. Haut, die sternschnuppengleich und unerwartet mondlichtweiße Farbe angenommen hatte. Seine letzten Worte …

Die Spinnenfäden reißen, Livia stolpert zurück in die Gegenwart. Sie hält eine Kerze umklammert. Das Symbol der Erleuchtung. 

Es riecht nach dem Grün des Dorngebüsches. Unter ihren Füßen knacken Zweige wie morsche Knochen.

Sie betritt das Labyrinth, jede ihrer Bewegungen wird zeitgleich in den Spiegeln wiedergegeben. Über ihr der Himmel und der volle Mond.

Ein kalter Windhauch zerrt an ihrem Haar. Sie fröstelt. Sie dreht sich um, der Weg hinter ihr liegt im Dunkel. Durch die Stille hört sie das Geräusch ihrer nackten Füße und das dumpfe Pulsieren ihres Herzens.

Mit jedem Schritt bilden sich die schräg eingefügten Spiegel über ihr wie ein spitzes Dach zusammen, bis der Himmel nur noch durch einen schmalen Spalt zu sehen ist. Ein Tunnel.

Livia bleibt stehen. Hier soll das Ritual stattfinden: wie sie es im Buch der Magie gelesen hat. Aus der Tasche ihres langen, weißen Gewandes holt sie Streichhölzer. Der Augenblick ist gekommen. Sie zündet die Kerze an.

Das Rad der Zeit hält inne, jeder Ton verstummt. Mit der Kerze stellt sie sich vor den Spiegel. Es sieht aus, als stünden unzählige ihrer Zwillingsschwestern in einem Lichtermeer.

„Aidan, ich komme. Kein Weg führt zurück aus der Anderswelt. Zurück in diese Welt will ich nicht.“...(Ende der Leseprobe)